Erinnerung an Holocaust wachhalten
Schüler am Marianum Meppen werden „Zweitzeugen“ gegen das Vergessen
Von Tobias Böckermann, NOZ / Meppener Tagespost, 14.07.2022
Wenn die Zeitzeugen des Holocausts sterben, wer soll dann die Erinnerung an das Unvorstellbare wachhalten? Am Gymnasium Marianum Meppen übernehmen Schüler diese Rolle. Sie werden zu „Zweitzeugen“.
Als die Lathenerin Erna de Vries im vergangenen Jahr starb, wurde es deutlicher denn je: Die Zahl der Zeitzeugen, die über die Gräuel des Holocausts und die Unmenschlichkeit Nazi-Deutschlands berichten können, nimmt ab. Irgendwann wird niemand mehr da sein, der aus eigenem Erleben die Erinnerung an Deutschlands dunkelstes Kapitel wachhält und gleichzeitig mahnt: Das darf nie wieder geschehen.
Bei einigen kullern die Tränen
Und genau deshalb ist Erna de Vries an diesem Vormittag kurz vor den Ferien am Gymnasium Marianum Meppen doch wieder präsent. Die Klasse 7a verbringt drei Schulstunden in der Mediathek statt im Klassenraum, und die Zehntklässlerin Leila Rumpke berichtet über Erna de Vries, die sie noch selbst kennengelernt hatte und die annähernd bis zum Ende wichtigste Zeitzeugin weit über das Emsland hinaus geblieben war.
„Wir kommen beide aus Lathen“, berichtet die Schülerin Leila Rumpke nun also einer Gruppe Siebtklässler. „Da war immer irgendwie eine Verbindung zwischen Erna de Vries und mir“, sagt sie und berichtet dann, wie Erna de Vries im KZ zu jener Nummer wurde, die sie bis zu ihrem Tod als Tätowierung auf dem Arm trug. Sie erzählt, wie „Erna“ in Auschwitz die Hölle auf Erden überlebte, dort aber ihre Mutter und damit erst einmal auch sich selbst verlor.
Für die Siebtklässler ist das harter Tobak, ihr Blick schwankt zwischen Staunen und Entsetzen. Ganz am Anfang der drei Schulstunden in der großen Gruppe hatten sie noch aufgeregt getuschelt und gelacht – sie wussten nicht so recht, was auf sie zukam. Jetzt aber schweigen sie, einigen kullern die Tränen. „Das ist oft so“, sagt Geschichtslehrer Jan Peter Baum, der das Projekt „Zweitzeugen“ am Marianum seit vielen Jahren gemeinsam mit seinem Lehrerkollegen Johannes Kröger betreut. „Am Anfang ist die Aufregung groß. Aber dann hören die Kinder sehr konzentriert zu.“ Für viele ist diese Nähe zum Holocaust neu. Die ursprüngliche Idee zum Zweitzeugenprojekt hatten die beiden Lehrer dabei übrigens nicht selbst, sondern haben sie in Osnabrück kennengelernt. „Dort gibt es das Original-Zweitzeugenprojekt, das über einen gleichnamigen Verein getragen wird“, sagt Baum. Ehrenamtliche transportieren als Zweitzeugen die Geschichten von Holocaust-Überlebenden in die Zukunft. „Wir haben das etwas abgewandelt: Bei uns übernehmen Schülerinnen und Schüler aus Jahrgang zehn diesen Part und berichten jüngeren Kindern. Wenn alles gut läuft, finden sich unter den Siebtklässlern später wieder einige, die dann selbst zum Zweitzeugen werden.“
Genauso war es bei Johanna Funke, Lotta Kuhlmann, Jette Lau oder Leila Rumpke. Insgesamt 18 Schülerinnen und Schüler haben sich aktuell mit den Lebensgeschichten von Erna de Vries, Esther Bejarano, Hannah Pick-Goslar, Siegmund Pluznik oder Rolf Abrahamsohn beschäftigt und unterschiedliche Präsentationen ausgearbeitet.
In ihren Vorträgen nennen sie die alten Herrschaften beim Vornamen, fast so, als wären sie gute Freunde oder Bekannte, die man wertschätzt. Und vielleicht sind sie das sogar inzwischen ja auch geworden – obwohl oder gerade weil viele dieser Original-Zeitzeugen in den vergangenen Jahren gestorben sind.
Das Programm der drei Zweitzeugen-Stunden ist dabei immer gleich: Zu Beginn sollen die Siebtklässler ihren Alltag schildern. Vom Zähneputzen bis zur Schule, vom Sport bis zum Berufswunsch. Die Punkte werden auf einer digitalen Tafel notiert. Danach verteilen die älteren Schüler kurze Gesetzestexte aus der Nazizeit, die die Siebtklässler selbst vorlesen.
Die Gesetze schränkten die Rechte der Juden damals immer weiter ein. Alles, was verboten wurde, streichen die Zweitzeugen an der Tafel durch. Am Ende wird klar: Juden hatten keinerlei Rechte mehr. Ein würdevolles Leben war ihnen nicht mehr möglich.
Nach diesem Einführungsblock folgen in mehreren weiteren die fünf Zweitzeugenberichte, die Kinder können sich alle nacheinander anhören. Sie erfahren, dass die Nationalsozialisten oftmals nicht mal einen Grund benötigten, um Menschen zu töten und ganze Familien auszulöschen. Sie erfahren, dass einige der Zeitzeugen als Einzige aus ihren Familien überlebten und dennoch den Mut fanden weiterzumachen.
Geschichte begreifen, das ist der Sinn des Projektes, die Geschichten der Zeitzeugen nicht verstummen zu lassen und am Ende einen Beitrag gegen Diskriminierung jeder Art zu leisten. „Dabei kommt es nicht unbedingt darauf an, dass die Zweitzeugen alles im Sinne eines Historikers perfekt referieren“, sagt Lehrer Baum. „Wir glauben, dass es bei den jüngeren Schülern einfach ganz anders ankommt, wenn ihnen ältere Schüler berichten.“ Die Rückmeldungen aus dem Projekt seien jedenfalls durchweg sehr gut, so Baum.
Dieser Artikel ist am 12.07.2022 in der Meppener Tagespost erschienen und hier online und hier als Download verfügbar.
Vielen Dank an Herrn Böckermann und die Meppener Tagespost für den ausführlichen Bericht!