Von J. Breier
Die Erinnerung bewahren – Die Zukunft
verantwortungsvoll gestalten
Vollkommene Stille. Gebannt sitzen wir in einem
Präsentationsraum des Jugendgästehauses Dachau,
sämtliche Augenpaare sind auf einen kleinen
französischen Mann von 90 Jahren gerichtet. Er ist gekommen,
seine Geschichte zu erzählen – eine Geschichte, bei
der es uns allen den Atem verschlägt. Wieso? Clement Quentin
ist Überlebender des Konzentrationslagers Dachau, sein
Schicksal wohl einmalig.
Als patriotischer Franzose war er Mitglied in der Widerstandsbewegung
gegen die nationalsozialistische Besatzungsmacht und die
kollaborierende Vichy-Regierung. Im Jahr 1944 wurde er gefangen
genommen und nach Dachau verschleppt. Doch dort wurde er nicht wie die
meisten Häftlinge in den unter unmenschlichen Bedingungen
stattfindenden Arbeitseinsatz geschickt, sondern in einem besonderen
Block des Lagers untergebracht – isoliert von den restlichen
Baracken. Unfassbar. Unbegreiflich. Diese beiden Adjektive kommen aus
heutiger Perspektive wohl am ehesten einer Beschreibung der
Vorgänge nahe, die der französische Zeitzeuge uns,
den Teilnehmern der Jugendbegegnung des Deutschen Bundestages,
schildert. Denn an Clement Quentin wurden Menschenversuche
durchgeführt. Nationalsozialistische Ärzte nutzten
ihn als bloßes Versuchsobjekt, um die grausamsten Praktiken
an ihm zu erproben. Doch der gläubige Katholik, dessen Glaube
ihm die Kraft gab, irgendwie durchzuhalten, überlebte bis zur
Befreiung des Konzentrationslagers Dachau im April 1945. Heute steht er
vor uns, wie vor den zahlreichen Schulklassen, die er im Laufe der
Jahre besucht hat, und berichtet mit einer anrührenden
Offenheit von dem ihm zugefügten Leid.
Das Ende seines
Vortrags beinhaltet schließlich den wohl bewegendsten Moment
dieses Abends. Vergeben habe er seinen Peinigern von einst, meint
Clement Quentin, denn nur auf diese Weise ließen sich die
quälenden Gedanken der Rache überwinden. Vergessen
werde er aber nie. Und so mahnt der ehemalige
Widerstandskämpfer vor allem uns Jugendliche, die
Erinnerungskultur aufrechtzuerhalten und die Demokratie, den
effektivsten Schutz vor der erneuten Errichtung einer
totalitären Diktatur, zu stärken.
Die Jugendbegegnung des Deutschen Bundestags, an der wir auf Vorschlag
von pax christi teilnehmen durften, ließ uns an vielen
Stellen die Bedeutung erkennen, auch im Jahr 2011 noch an den Holocaust
und die während des sogenannten „Dritten
Reichs“ verübten Verbrechen zu erinnern. Neben dem
Besuch der KZ-Gedenkstätte Dachau oder der Workshoparbeit zu
diversen historischen Themen mit Bezug zum Konzentrationslager Dachau
waren es speziell die Gespräche mit Zeitzeugen wie Clement
Quentin, die uns ergründen ließen, welche
Konsequenzen der nationalsozialistische Rassenwahn für das
Schicksal Einzelner hatte.
Dass wir als Individuen und als Gesellschaft
aus dem Schrecken jener Zeit Lehren ziehen müssen, die sich
auch auf das alltägliche Zusammenleben beziehen, wurde vor
allem durch die Rede von Zoni Weisz in der Gedenkstunde des Deutschen
Bundestages für die Opfer des Holocaust unterstrichen. Zum
ersten Mal sprach mit dem erfolgreichen niederländischen
Floristikkünstler, dessen Eltern und Geschwister im Holocaust
ermordet wurden, ein Vertreter der Sinti und Roma. Besonders
thematisierte er die weiterhin andauernde Diskriminierung dieser
Bevölkerungsgruppe. 200.000 – 500.000 Sinti Roma
waren unter nationalsozialistischer Herrschaft ermordet worden, doch
Entschädigungszahlungen wurden in der Nachkriegszeit oftmals
verwehrt. Schließlich dauerte es mehrere Jahrzehnte, bis die
Verbrechen an den Sinti Roma vom deutschen Staat als
Völkermord anerkannt wurden. Auch heute noch sind
Ressentiments ihnen gegenüber europaweit verbreitet und
münden z.B. in der Ausweisung zahlreicher Sinti und Roma aus
Frankreich oder in ihrer bewussten Ausgrenzung aus staatlichen
Bildungseinrichtungen in Rumänien.
In der
anschließenden Podiumsdiskussion mit Herrn Weisz und dem
Bundestagspräsidenten Prof. Dr. Norbert Lammert verdeutlichte
der Hauptredner seinen Wunsch nach einer besseren Integration der Sinti
und Roma, zu der sich beide Seiten bekennen und öffnen
müssten. Der allgemein verbreiteten Unwissenheit über
die Sinti und Roma – die Grundlage jeder Vorurteilsbildung
ist – durch informative Aufklärung zu begegnen,
schien dabei allen Beteiligten ein wesentliches Instrument zur
Schaffung einer integrativeren Gesellschaft zu sein. Toleranz,
Offenheit und die Bereitschaft, Fremdes nicht abzulehnen, sondern
verstehen zu lernen, sind in diesem Kontext keine hohlen Phrasen,
sondern
bedürfen der aktiven Auslebung eines jeden Einzelnen.
Was nehmen wir also mit von dieser Jugendbegegnung, deren Thema von
manchen unserer Altergenossen schon als nicht mehr
zeitgemäß angesehen wird?
Ist es der Besuch der
KZ-Gedenkstätte, bei dem wir mit einem konkreten Tatort der
nationalsozialistischen Verbrechen konfrontiert wurden? Ist es das
geeinte Interesse des internationalen Teilnehmerfeldes an der
Aufrechterhaltung der Erinnerungskultur? Sind es die bewegenden
Zeitzeugengespräche oder die Erkenntnis, dass auch die aktive
Partizipation an der Demokratie eine wichtige Vorraussetzung
für ein „Nie wieder“ ist?
Vor allem ist es
ein Zitat von Max Mannheimer, einem Überlebenden der Lager
Auschwitz und Dachau, das – gerichtet an die junge Generation
– keinen Zweifel an der ungebrochenen Aktualität des
Themas der Jugendbegegnung lässt:
„Ihr seid nicht verantwortlich
für das, was passiert ist, aber für das, was
passieren wird.“
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